Page 65 - Entlebucher Brattig 2021
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           legungen seines Grossvaters in der Alltagssprache     Der rote Faden
           erfassten auf je eigene Weise einen Teil der Wirklichkeit.
           Die beiden Sichtweisen waren für ihn zwei Seiten der-  «Ich musste mir in meinem Leben selber auch fachlich
           selben Medaille. Diese Einsicht sollte später auch für die   und persönlich Spuren legen», sagte Joseph Duss-von
           Mediation wichtig sein. Sie versucht die Konfliktparteien   Werdt einmal in einem Interview. Eine Spur führt ins
           mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksweisen, Meinungen   Entlebuch, wo er beobachten und verweilen, schweigen
           und Ansichten über einen geteilten Streitpunkt in einem   und nachdenken lernte. Eine andere führte nach Leuven.
           gemeinsamen Gespräch wieder zusammenzuführen.         Dort lernte er eine Philosophie kennen, die eine aner-
                                                                 kennende Haltung gegenüber unterschiedlichen Perspek-
           Die Begegnung mit der Mediation                       tiven, Meinungen und Wirklichkeiten einnimmt. Zurück
                                                                 in der Schweiz hat Duss-von Werdt in der wissenschaft-
           Im Jahr 1959 kehrte Duss-von Werdt in die Schweiz     lichen und therapeutischen Arbeit zu Familie und Bezie-
           zurück. Nach dem Abschluss zweier Dissertationen in   hung berufliche Spuren hinterlassen. In der Mediation
           Philosophie und Theologie in München, der Hochzeit    schliesslich finden diese drei Spuren zusammen: Die in
           und Familiengründung mit Marie Lou von Werdt und      der Kindheit erworbenen Eigenschaften, die Haltung aus
           den ersten beruflichen Engagements machte er sich     seinem Studium und die Erfahrung aus der beruflichen
           bald einen Namen im Fachgebiet der Familienforschung.   Praxis dienten ihm allesamt der vermittelnden Tätigkeit
           Er wurde Mitherausgeber von wissenschaftlichen Zeit-  und der Beilegung von Konflikten. Mit Blick auf seine
           schriften und Mitbegründer des «Instituts für Ehe- und   biografischen Spuren bezeichnete sich Joseph Duss-von
           Familienwissenschaft» in Zürich. Neben der wissen-    Werdt selbst als «Glückskind», mit dem es der Zufall gut
           schaftlichen Forschung hielt er Vorlesungen an meh-   meinte: «Es gibt einen roten Faden in meinem Leben:
           reren Universitäten in der Schweiz und arbeitete als   Ich bin immer am richtigen Zeitpunkt mit den richtigen
           Praktiker in der Paar- und Familientherapie.          Menschen zusammengetroffen. Zufall? Sie fielen mir zu!»
           Gegen Ende der 1970er-Jahre begegnete Duss-von
           Werdt Gisela und Hans-Georg Mähler aus München. Die   Alexander Röösli, *1995, Hasle/Bern
           Zusammenarbeit mit dem Anwaltsehepaar führte ihn      Student der Sozialanthropologie und der Germanistik
           nun zur Mediation. Für Duss-von Werdt war dies noch-
           mals ein neuer Anfang, durch den sich sein Arbeits-
           schwerpunkt verlagerte: «Mein Interesse an der Sache
           [der Mediation] erweiterte sich bald über die Familie
           hinaus, hinein in Politik, Nachbarschaft, Schule – überall
           dorthin, wo es Konflikte gibt.» Zwar blieb die Vermitt-  Verwendete Literatur:
           lung in Beziehungs- und Familienproblemen sein Kern-  •  Sämtliche Zitate von Joseph Duss-von Werdt stammen aus:
           gebiet, doch beschäftigte sich Duss-von Werdt auch mit   Leben ist Begegnung. Ein Gespräch zwischen Joseph Duss-von
           Konflikten in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ähn-  Werdt und Wolf Ritscher. In: KONTEXT 41,4 (2010), S. 319 – 348.
           lich wie sein Grossvater beim Wetter versuchte er stets   •   Duss-von Werdt, Joseph: Homo mediator. Geschichte und
                                                                    Menschenbild der Mediation. Stuttgart: Klett-Cotta (2005).
           die komplexen Zusammenhänge hinter einem Konflikt     •  Duss-von Werdt, Joseph: Einführung in Mediation. Heidelberg:
           in den Blick zu nehmen. Das Verständnis der «vieldimen-  Carl-Auer (2008).
           sionalen physischen, klimatischen, sozialen, politischen,   •  Raether Christina und Erwin Ruhnau: Ethik und Ethos der Media-
                                                                  tion. Interview mit Prof. Dr. Joseph Duss-von Werdt. In: Spektrum
           kulturellen, religiösen, ökonomischen, usw. Kontext[e]»
                                                                  der Mediation 32 (2008), S. 1 – 8.
           eines Konflikts war für ihn entscheidend, um durch das   •  Ritscher, Wolf: Er war ein Hasler – und auch ein Weltbürger.
           Verfahren der Mediation zu einer nachhaltigen Lösung   Eine Würdigung für Joseph Duss-von Werdt. In: Entlebucher
           zu gelangen.                                           Anzeiger, 25 (2020), S. 9.
           Als einer ihrer wichtigsten Vertreter lehrte Duss-von   Interview auf youtube: https://www.youtube.com/
           Werdt ab den 1980er-Jahren ein solch ganzheitliches   watch?v=4478bBJa72o
           Verständnis von Mediation, unter anderem als Professor
           an der Universität Fribourg und an der Fernuniversität
           Hagen. Er schrieb eine beliebte «Einführung in Media-  Mit diesem QR-Code
           tion» und sein Hauptwerk «homo mediator – Geschichte   sehen Sie ein Video des
           und Menschenbild der Mediation» gilt heute als eines   Mediatorenshops mit
           der wichtigsten Bücher zur Mediation.                 Joseph Duss-von Werdt.
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