Page 101 - Entlebucher Brattig 2021
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           Der Hirsmontagbote im Entlebuch – eine historische Zusammenfassung




           Friedrich Schmid













           Von 1770 bis 1820 war der Brauch fest etabliert       als durchgeführt wurde – verboten durch Luzerner Man-
           Alljährlich am Montag in der Fasnacht reitet der Hirs-  date, mitunter auf Drängen von Dorfgewichtigen, denen
           montagbote in eine Nachbargemeinde, wird dort als     Giftpfeile drohten. Damit das Überborden kein Verbot
           Gast empfangen und liest dann vom hohen Ross hin-     bewirken konnte, sorgten die Organisierenden, Geschwo-
           unter seinen Brief vor. Es sind Knittelverse, die, in schlep-  rene oder der Hirsmontagrat durch Kontrolle für eine
           pendem Singsang vorgetragen, die Torheiten der Besuch-  gewisse Selbstzensur.
           ten ans Licht bringen. Dieser Hirsmontagbrief besteht
           aus vier Teilen: Die Einleitung entfaltet die politische   Ursprung vermutlich um 1375
           Aktualität der Nachbargemeinden in einem Motto, zum
           Beispiel einer Zwingburg, und appelliert an den vaterlän-  Die Vorstellung, das Levitenlesen gehe auf den Gugler-
           dischen Gemeinsinn. In den Possen werden Einzelne     krieg 1375 zurück, hat 1798 erstmals Pfarrer Stalder for-
           aus der Gastgemeinde, eher die Honoratioren, detailreich   muliert. Er sagt, die Entlebucher führten ihren Brauch
           aufs Korn genommen. Im folgenden Dorfruf bekommt      auf ein Gefecht am Entlenstutz zurück. Da es dieses
           auch die übrige Bevölkerung ihr Fett ab. Der Schlussteil,   Gefecht aber nie gegeben habe, schlage er vor, den Sieg
           auch er neckisch und zwiespältig, ist der Versöhnung   über die Gugler als Ausgangspunkt des Brauches zu
           und der Ermahnung gewidmet. Anschliessend geht es     sehen. Diese Aussage wurde gerne übernommen und
           ans Hirsemahl und ans Trinken, zu Belustigung und     eifrig aufgeblasen, entbehrt aber jeder Grundlage und
           Tanz, und vernünftigerweise kehrt der Bote rechtzeitig   Wahrscheinlichkeit. Die Begründung dazu und zum
           heimwärts, gewappnet gegen Attacken aus dem Hinter-   folgen den Zeitraster findet sich in der Einleitung zu
           halt, denn manch ein Bote hatte schon büssen müssen   meiner Publikation der alten Hirsmontagbriefe, Blätter
           für sein freches Mundwerk. So darf man sich den Hirs-  für Heimatkunde Entlebuch, 77, 2012.
           montag in den Jahren von etwa 1770 – 1820 idealerweise
           vorstellen.                                           Ab 1570 viele Hirsmontagbräuche

           Stoos oder Schwung                                    Zeitraster in 100-Jahr-Schritten: Ab 1570 entwickeln sich
                                                                 in vielen Gegenden weit über den Kanton Luzern hinaus
           Einige Ergänzungen und Einschränkungen: Vor dem       Hirsmontagbräuche. In diesem Rahmen mag sich im
           Brief war der Stoos oder Schwung. Ein Bote lud auf den   Entlebuch der Schwung entwickelt haben. Ab 1670 ist
           Hirsmontagnachmittag zu einem Wettkampf ein. Die      das Levitenlesen in Knittelversen möglich. Der erste
           jungen Männer des einen Kirchspiels traten, eidgenössi-  erhaltene Brief, 1721, weist auf bereits empfundene Tra-
           sche Schlachten imitierend, in festen Reihen gegen die   dition hin. 1770 ist der Brauch seit einigen Jahren auf
           des andern an und versuchten sie wegzudrücken und zu   den Fasnachtsmontag vorverlegt. Der Schwung wird auf-
           durchbrechen. Die Verlierer wurden als Österreicher aus-  gegeben. Das Levitenlesen tritt für fünfzig Jahre in seine
           gelacht. – Allmählich hat sich die Rolle des einladenden   bekannteste Phase. 1870 ist es mit der alten Tradition
           Boten zum späteren Hirsmontagboten erweitert. Um      vorbei. Übrigens: Der Hirsmontag ist ausserhalb des
           1700 wurde der Brauch des Schwungs und der des Briefe-   Entlebuchs immer der Montag der alten Fasnacht.
           Verlesens nebeneinander oder abwechselnd gepflegt.
           Um 1770 wurde der Schwung aufgegeben, verboten.       Friedrich Schmid, *1951, Einsiedeln
           Zu oft war es zu bösen Raufereien gekommen. Aber      lic. phil., pensionierter Deutschlehrer
           auch die Possen der Boten waren oft grob und ehren-
           rührig, sodass der Hirsmontag wohl häufiger verboten
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